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„Die Gesellschaft hat die Waffe geladen“ – ein Mord im Namen der „Ehre“

Azadiya floh vor der eigenen Familie, denn ihr Onkel hatte bereits seine eigene Tochter umgebracht, Azadiyas Cousine Berxwedan. Der Grund: Berxwedan wollte frei leben – ausziehen, eine Ausbildung machen. Wenn sie jetzt nicht geht, dann würde Azadiya das Gleiche widerfahren, denkt sie vor ihrer Flucht.

Leni und Anna

Seit ihrer Flucht lebt Azadiya anonym. | Quelle: eigene Aufnahme

Ein Café in einer deutschen Stadt. „Wir verspäten uns paar Minuten, sorry“, schreibt Azadiya uns per Text-Nachricht. Also gehen wir schon mal hinein. Sobald wir das Café betreten, wird der Lärm der Fußgängerzone zu einem dumpfen Rauschen. Wir sitzen in der Ecke des Cafés, beobachten die Leute, die im Café Pfannkuchen bestellen, Kaffee trinken und die Gäste bedienen.

Einen Moment später kommen Azadiya und ihre Verlobte herein. „Zwei Cola, ein Wasser und einen Kaffee bitte“. Azadiya trinkt immer Cola, wenn sie unterwegs ist. Wir treffen sie, um ihre Geschichte zu hören. Eine Geschichte, die in Deutschland oft erst publik wird, wenn es zu spät ist. Azadiya ist gefährdet von ihrer eigenen Familie.

Was sind Verbrechen im Namen der „Ehre“?

Verbrechen im Namen der „Ehre“

„werden solche Verbrechen genannt, die an Personen begangen werden, die bezichtigt werden, die „Ehre“ der Familie oder Gemeinschaft verletzt zu haben. Zur Wiederherstellung der Ehre wird der betroffenen Person (in der Regel Frauen und Mädchen) Gewalt angetan. Der extremste Fall von Gewalt im Namen der Ehre sind die ‚Ehrenmorde‘.“ – Amnesty International

Trotz der Kritik am Begriff sprechen wir in diesem Text von „Ehrenmorden“. Wir setzen das Wort in Anführungszeichen, da wir von Taten sprechen, die die vermeintliche Ehre der Familie wiederherstellen sollen.

Der Mord – ein Antrieb?

Azadiya wächst in einer mittelgroßen westdeutschen Stadt auf. Sie ist das fünfte von sieben Kindern. Der Alltag der jungen Jesidin ist gezeichnet von Missbrauch und Prügel. Zu ihrer Cousine Berxwedan hat sie ein inniges Verhältnis. Sie ist für Azadiya die einzige, mit der sie sich blind versteht. Beide träumen von der Freiheit: eine Ausbildung machen, unabhängig leben. Doch über konkrete Pläne sprechen sie nie.

Namen mit Bedeutung

Der Name Azadiya

Azadiya bedeutet Freiheit auf kurdisch. Er leitet sich vom kurdischen Wort Azadî ab, das männlich ist. So entschied sie sich für Azadiya – der weiblichen Form. Den Namen Azadiya konnte sie nicht amtlich für sich eintragen lassen, deshalb nutzt sie ihn öffentlich als Pseudonym.

Der Name Berxwedan

Im Buch nennt Azadiya ihre Cousine Berxwedan – auf kurdisch bedeutet das Widerstand. Azadiya hat das Wort auf ihrem Hals tätowiert, auch als persönliche Erinnerung, dass sie sich immer wieder für die eigene Freiheit einsetzen muss. Den Namen übernehmen wir in diesem Text.

Als Berxwedan anspricht, dass sie ausziehen will, verprügelt ihr Vater sie schwer. Irgendwann verlässt sie die Familie. Die junge Jesidin geht in ein Frauenhaus, ändert ihren Namen und schneidet sich die Haare ab. Ihren Vater zeigt sie wegen Körperverletzung an. Als die Gemeinschaft anfängt, über Berxwedans Flucht zu reden, sieht ihr Vater seine Ehre verletzt. Um diese reinzuwaschen, sucht er seine Tochter und verschleppt sie in die Türkei, um sie dort umzubringen. In Zusammenarbeit mit der türkischen Justiz wird er in Deutschland zu lebenslanger Haft verurteilt.

Der Tod ihrer Cousine ist für Azadiya ein Zeichen – erst jetzt sieht sie: „Wenn ich hier bleibe, werde ich sterben – genau wie Berxwedan“. Genau das ist der Antrieb, den Azadiya aus dem Tod ihrer Cousine zieht. Sie will in Freiheit leben und für die Freiheit anderer Frauen kämpfen.

Worin liegen die Ursachen für Ehrenmorde“?

Nach Schlagzeilen von „Ehrenmordfällen“ wird oft auf den Islam gezeigt. „Die Muslime machen das, bei uns würde es so etwas ja gar nicht geben“, ertönt es dann. Deshalb wird der Begriff „Ehrenmord“ oft kritisiert. Rassistische und xenophobe Vorurteile gegenüber Muslimen würden dadurch geschürt und die Religion wird verantwortlich gemacht. Doch „Ehrenmorde“ hängen nicht per se mit einer bestimmten Religion zusammen.

Jan Ilhan Kizilhan, Diplompsychologe spezialisiert auf transkulturelle Psychiatrie und Traumatologie erklärt „Ehrenmorde“ so: „Der Hintergrund ist tatsächlich, zumindest in allen Religionen […] eine patriarchalische Sichtweise“. Die Täter sind nicht unbedingt in einer patriarchalen Gesellschaft aufgewachsen, stattdessen ist das patriarchale Gedankengut von den Vorfahren und Eltern in die Erziehung eingeflossen. Patriarchale Gesellschaften sind sogenannte Männergesellschaften, in denen Frauen als Besitz des Mannes gelten. Die Familie ist autoritär und traditionell strukturiert. Der Vater repräsentiert die Familie nach außen. Nach innen ist die Familie geschlossen.

Die Mutter regelt die Erziehung, vor allem bei der Weitergabe von traditionellen Werten und der sexuellen Reinheit der Mädchen. So erklären Mitarbeiterinnen von der Beratungsstelle Solwodi Regensburg, dass das traditionelle, patriarchale Familienbild oft auch von den weiblichen Familienmitgliedern gestützt wird.

Ältere Schwestern stehen strikt auf Seiten der Familie, wenn die jüngeren Schwestern dem System manchmal rebellischer gegenüberstehen. Sie selbst hatten vielleicht nicht den Mut oder das Netzwerk, um sich dem System zu entziehen. Eine Mitarbeiterin von YASEMIN, einer Beratungsstelle für junge Menschen mit Migrationsbiografie, spricht in dem Zusammenhang von einem „patriarchal strukturierten, traditionell orientierten Familiensystem“, das sich an kollektivistischen Wertesystemen orientiert.

Der Weg in die Freiheit

Zwei Jahre nach Berxwedans Tod verlässt auch Azadiya ihre Familie. Ein halbes Jahr lang plant sie ihre Flucht und hat immer wieder Gespräche mit einer Beraterin eines türkisch-kurdischen Frauenvereins. Mit dem Frauenverein im Rücken wendet sie sich ans Jugendamt, das im ersten Moment nicht helfen will. Erst als Azadiya erzählt, aus welcher Familie sie kommt, wird das Jugendamt aktiv. Noch einen „Ehrenmord“-Fall würde die Stadt nicht wollen.

T-Shirts, Unterwäsche, zwei Hosen, Bilder von der Familie und ihrem jüngsten Bruder. Das ist alles, was Azadiya in zwei Tüten einpackt. Dazu die wichtigsten Papiere: Personalausweis, Krankenversicherungskarte, Sozialversicherungsausweis, Zeugnisse aus der Schule und dem Praktikum, Bescheide vom Jobcenter und die Geburtsurkunde. Das soll alles sein, um den Weg in die Freiheit zu bestreiten.

Diese wird im ersten Schritt eine Mädchenzuflucht 600 Kilometer entfernt von Azadiyas Heimatstadt sein. Mitarbeiter:innen vom Jugendamt holen Azadiya von der Arbeit ab und bringen sie dort hin. Jetzt lebt sie in Anonymität, der Weg dahin war stressig. Azadiya ändert ihren Namen, legt ihre türkische Staatsbürgerschaft ab, bekommt einen neuen Pass. Um sich selbst zu schützen, beantragt sie eine Auskunftssperre. Jetzt soll die Freiheit auf Azadiya warten. Doch die Angst begleitet sie bis heute, acht Jahre nach ihrer Flucht. „Und die werde ich auch mein Leben lang haben“, ist sich Azadiya sicher.

Warum die Flucht nicht immer leicht ist

Immer wieder betont Azadiya, wie wichtig es ist, die eigene Flucht ausgiebig zu planen. Denn wenn Betroffene ihre Flucht überstürzen, endet ihr Weg oft wieder bei der Familie. „Dann können sie in eine noch gefährlichere Situation geraten“, erklärt die Beraterin von FIM. Gründe dafür gibt es viele. Familien versprechen den Betroffenen beispielsweise, dass sie sich ihren Ehepartner selbst aussuchen dürfen, locken sie wieder zurück nach Hause. Oft werden diese Versprechen dann allerdings gebrochen. Deshalb, und auch Azadiya wiederholt das immer wieder, sei es sehr wichtig, den Kontakt zur Familie vollständig einzustellen.

Auch Azadiya hat bereits miterlebt, wie Frauen, denen sie geholfen hat, zurück in ihre Familie gegangen sind. „Weil sie auch die Anerkennung und Liebe ihrer Familie brauchen“, erklärt die junge Frau. Dabei spielt auch die Einsamkeit nach einer Flucht eine große Rolle. Jedoch kann es sich dabei um eine lebensbedrohliche Entscheidung handeln, so meint Azadiya: „Aber entweder werden die dann verschleppt oder umgebracht.”

Schutzplatz? Fehlanzeige!

Dass vielen Frauen die Flucht von der Familie oder dem Partner schwerfällt, liegt nicht zuletzt auch daran, dass es zu wenig Frauenhäuser gibt. Außerdem müssen die Betroffenen ihren Platz in einer Schutzeinrichtung unter Umständen selbst zahlen.

Eigene Darstellung | Quelle: Bundesweite Frauenhaus-Statistik 2022

Die Finanzierung von Schutzeinrichtungen ist in Deutschland Ländersache und damit sehr unterschiedlich geregelt. In den meisten Fällen wird eine Mischfinanzierung genutzt. Die Selbstzahlungen können dabei unter Umständen rund 50 Euro pro Tag sein – für Frauen, die lange Zeit finanziell abhängig von ihrem Mann waren, ziemlich viel Geld. „Dann ist es der einfachere Weg: ich geh zurück zum Mann, da bin ich einfach versorgt“, erklärt es eine Solwodi-Mitarbeiterin.

Zurückgehen? Für Azadiya würde das den Tod bedeuten

Dass Azadiya nie zurück zu ihrer Familie ging, erklärt sie sich selbst durch den Tod ihrer Cousine. “Dann würde ich vielleicht denken, meine eigene Familie wird mich doch niemals umbringen”, erklärt die Jesidin. Doch der Mord machte die Gefahr erst real: “Ich wusste, wenn ich gehe, bin ich die Nächste. Und ich kann niemals Kontakt zu meiner Familie haben.“

Auch heute noch gibt es kleine Momente und Erinnerungen gemeinsam mit der Familie, die Azadiya fehlen. Doch die Vergangenheit gibt ihr auch Kraft: „Ich bin dankbar für alles, für das, was man mir auch angetan hat“, erklärt die junge Frau: „Ich bin dankbar, dass sie mich nicht lieben. Weil sonst wäre es noch schwieriger für mich.“ Trotz ihrer Geschichte empfindet Azadiya keinen Hass für ihre Familie: „Aber ich vermisse sie auch nicht, ich kann nichts vermissen, was ich nicht kenne.”

“Ich würde für jede Frau da draußen sterben”

Ursprünglich will Azadiya einen sozialen Beruf erlernen und Frauen helfen. Dann erstellt sie ihren Instagram-Account, auf dem sie Einblicke in ihr Leben als lesbische Jesidin postet – ein Novum. Ein junges Mädchen schreibt ihr und bittet Azadiya um Hilfe, ihre Familie zu verlassen. Azadiya hilft ihr trotz Angst davor, dass dem Mädchen etwas passiert. Immer mehr junge Frauen kommen auf sie zu und fragen nach Hilfe. „Wenn ich das schon nicht beruflich machen kann, dann mach ich es halt privat“, erzählt Azadiya.

Schwer fällt ihr dabei, die persönlichen Schicksale der jungen Frauen nicht zu nah an sich heranzulassen und sich nicht für jede einzelne aufzuopfern. „Ich weiß, ich kann nicht jedem jungen Mädchen helfen“ sagt sie bestimmt, „weil ich weiß, wenn ich mich darauf weiter extrem einlasse, dass mich das sehr belastet. Weil ich dann denke: wenn ihr was passiert, ist es halt auch Teil meiner Schuld“. Anderen Frauen zu helfen, gebe ihr ein gutes Gefühl. „Stolz. Ehre“, lacht sie selbst darüber. Ehre, ein Begriff, der sie selbst ins Grab bringen könnte. Doch, so scheint es, Azadiya holt sich den Begriff zurück.

Ihr Traum ist es, irgendwann ein Frauenhaus zu eröffnen – in der Schweiz, weil man da gutes Geld verdient. „Ich habe immer gesagt, ich würde für jede Frau da draußen sterben“, so lebt Azadiya ihr Leben. Nicht nur im Verborgenen macht sich Azadiya für andere Frauen stark. Mit ihrem Buch „Um mein Leben: ein biografischer Bericht“ geht sie mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit.

Besonders mit dem Gedanken an ihre verstorbene Cousine sieht es Azadiya als ihre Pflicht an, öffentlich über „Ehrenmorde“ zu sprechen. Das wollte sie eigentlich nie, aus Angst vor den Anfeindungen durch ihre Familie. Doch sie merkt: Niemand will so richtig über „Ehrenmorde“ sprechen. Deshalb muss sie übernehmen: „Bei mir ist es halt so, umso mehr ich rede, umso größter wird die Angst“. Sie spricht darüber, um Frauen, die sich in ähnlichen Situationen befinden, beizustehen und um ihnen zu zeigen, wie sie sich Hilfe holen können.

Gezeichnet vom Leben

Auch wenn Azadiyas Flucht schon Jahre her ist, dass ihre Familie für immer ein Teil von ihr bleiben wird, daran erinnert Azadiya ein Tattoo. Sie zeigt es auf ihrem inneren Oberarm. Dort zeichnen sich die Linien eines Puzzleteils ab. Daneben ist „la familia“ zu lesen – ein Zeichen für ihre Herkunft. „Das ist, weil meine Familie bleibt irgendwie immer ein Teil von mir. Weil ich werde niemals vergessen, wo ich herkomme“, erklärt die Kurdin.

Tattoos sind für Azadiya ein wichtiger Teil in ihrem Leben. Fast ihr gesamter Körper ist von den schwarzen Linien und Zeichnungen bedeckt. Wie in einem Buch, kann man so Teile des Lebens der jungen Frau erahnen. Die Tattoos sind eine Form, ihre Geschichte nach außen zu tragen. Azadiya liebt die Zeichnungen auf ihrem Körper. Sie hat mehr Ideen für neue Kunstwerke als Platz auf ihrem Körper. Doch es gibt einen weiteren, schlimmen Grund für Azadiyas Tattoos: „Falls man meine Leiche finden würde, dass man direkt wissen würde, dass ich das bin, durch die Tattoos.“

Auch den „Ehrenmord“ an Berxwedan findet man auf ihrem Körper wieder. Azadiya zieht den rechten Ärmel ihres T-Shirts nach oben und zeigt stolz ein besonders kunstvolles Tattoo. Auf ihrem rechten Oberarm ist eine Frau mit Engelsflügeln zu sehen. Ihr Mund ist verbunden, an den Handgelenken sind die Umrisse von Ketten zu sehen. Auf ihrer Stirn sind die Worte „R.I.P Cousine“ geschrieben, darunter liest man „denn sie töten für die Tradition“.

Auch weitere Stellen auf ihrer Haut widmet Azadiya ihrer Cousine. So deutet sie auf einen Vogel, der sich nahe dem Puzzleteil befindet und meint: „Dieser erste Vogel ist meine Cousine. Und dass ihr Tod dazu geführt hat, dass ich fliehen konnte.“ So sind die Tattoos ein Mittel gegen das Vergessen. „Ich wollte halt, dass ich mich immer dran erinnere. Falls ich mal Menschen vergesse“, meint Azadiya.

Der „Ehrenmord“ an ihrer Cousine trägt Azadiya auch auf ihrer Haut. | Quelle: eigene Aufnahme

Auch weitere Stellen auf ihrer Haut widmet Azadiya ihrer Cousine. So deutet sie auf einen Vogel, der sich nahe dem Puzzleteil befindet und meint: „Dieser erste Vogel ist meine Cousine. Und dass ihr Tod dazu geführt hat, dass ich fliehen konnte.“ So sind die Tattoos ein Mittel gegen das Vergessen. „Ich wollte halt, dass ich mich immer dran erinnere. Falls ich mal Menschen vergesse“, meint Azadiya.

Auch weitere Stellen auf ihrer Haut widmet Azadiya ihrer Cousine. So deutet sie auf einen Vogel, der sich nahe dem Puzzleteil befindet und meint: „Dieser erste Vogel ist meine Cousine. Und dass ihr Tod dazu geführt hat, dass ich fliehen konnte.“ So sind die Tattoos ein Mittel gegen das Vergessen. „Ich wollte halt, dass ich mich immer dran erinnere. Falls ich mal Menschen vergesse“, meint Azadiya.

“Die Gesellschaft hat die Waffe geladen”

„Ehrenmord“ – dieser Begriff ist für viele nur schwer greifbar, denn es erscheint für die meisten Menschen schier unvorstellbar, dass ein Mord innerhalb der eigenen Familie geschieht. Doch ein Aspekt, der in der Recherche immer wieder auftaucht und das Konzept eines „Ehrenmordes“ erklärbar macht, ist die Gesellschaft. Kurz nach dem Mord an Azadiyas Cousine äußerte sich ein Klassenkamerad zu diesem nur schwer greifbaren Begriff des „Ehrenmordes“: „Der Täter hat zwar abgedrückt, aber die Gesellschaft hat die Waffe geladen.“ Gesellschaftliche Akzeptanz also – ist das nicht etwas, was einem jedem wichtig ist?

So liegt eine Ursache für „Ehrenmorde“ genau in dieser gesellschaftlichen Akzeptanz. Denn in Gesellschaften, in denen im Namen der Ehre gemordet wird, spielt das Kollektiv eine unfassbar wichtige Rolle. So beschreibt es auch Psychologe Kizilhan: „Das Kollektiv sagt, das ist unehrenhaft, das ist eine Ehrverletzung und du musst deine Ehre wiederherstellen.“ Somit haben Täter neben dem Druck, der sich in der eigenen Psyche abspielt, auch einen Druck von außen, vom Kollektiv.

So ist sich auch Azadiya sicher: „Das verstehen die meisten nicht. Das hat nichts mit Religion oder so zu tun, sondern einfach nur wegen der Gesellschaft.“ Wenn das Umfeld redet und begonnen wird, über die Familie zu sprechen, erst dann wird das Verhalten einer Frau zum Problem.

Ein „Ehrenmord“ muss nicht immer ein Femizid sein

Das kollektivistische Wertesystem erklärt auch, warum man einen „Ehrenmord“ nicht mit einem Femizid gleichsetzen kann. So erklärt Kizilhan: „Wir haben hier nur den Aspekt der Individualität, das heißt, in der westlichen Welt ist ein kollektiver Druck und ein kollektiver Prozess weggegangen.“ Dennoch spielt auch beim Femizid der patriarchale Gesichtspunkt eine Rolle. „Man ist eifersüchtig, man fühlt sich gekränkt, man fühlt sich gedemütigt, aus der Perspektive, man ist patriarchal und sagt, jemand nimmt meine Frau jetzt, eigentlich gehört sie mir“, so Kizilhan. Beim „Ehrenmord“ hingegen wird zusätzlich Druck aus der Gesellschaft ausgeübt.

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Ehre – ein Ordnungssystem als Ersatz für Staat und Justiz

Dabei wirkt ein starker Druck, der von der Gesellschaft ausgeübt wird, auf die Familie. Erst wenn die Frau getötet wurde, endet das Reden im Umfeld, damit ändert sich die Sicht auf die Familie. „Man würde die feiern, weil die wieder die Ehre gerettet haben“, erklärt Azadiya.

Während die Gewalt in modernen Gesellschaften in die Hände des Staates gelegt wurde, wird Ordnung in Gesellschaften mit geringerem Entwicklungsgrad anders hergestellt, erklärt Kizilhan. Dabei ist vor allem ein Problem, dass die juristische Gewalt, die von Gesetzen ausgeht, die durch eine Diktatur geschaffen wurden, in vielen Ländern nicht verinnerlicht ist. Stattdessen werden traditionelle Werte wie die Ehre genutzt, um Ordnung herzustellen. „Der meine Ehre nicht antastet, dessen Ehre taste ich auch nicht an. Und diese Strukturen haben funktioniert“, erklärt der Experte.

In Azadiyas Familie wurde über Ehre nicht gesprochen. Das Konzept bestand lediglich unterbewusst. So meint die junge Frau: „Wir wussten, machst du das oder das, wirst du umgebracht. Also wir sind so groß geworden, wir wussten, wir dürfen das und das nicht machen, sonst werden wir getötet. Aber von Ehre oder Religion wurde nie geredet.“

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“Ich kann die Welt nicht verändern, das können wir nur gemeinsam”

Obwohl die Ehre Azadiyas ganzes Leben beeinflusst hat, heute hat das Konzept keinen großen Wert mehr für die junge Frau. „Ehre verbinde ich leider Gottes mit schlechten Dingen. Aber ich weiß, dass es ja nichts Schlechtes ist“, so Azadiya. Denn Ehre bedeutet heute etwas ganz anderes für sie: „Ehrenvoll ist, wenn man ein guter Mensch ist. Wenn man heute noch menschlich ist.“ Seit acht Jahren kann Azadiya frei Leben, auch wenn es ein Leben voller Angst ist.

Die junge Frau kämpft mit voller Kraft gegen die Gewalt, gegen die Ehre. Das tut sie nicht nur, indem sie anderen Frauen in schwierigen Situationen hilft, sondern auch, indem sie trotz der Gefahr und der Angst an die Öffentlichkeit geht – über schwierige Themen spricht – und ihre Geschichte und die Geschichte von Berxwedan erzählt. Denn damit hat sie eine Aufgabe gefunden, mit der sie die Welt verändern kann – zumindest ein kleines bisschen.

So sagt sie selbst: „Ich kann nicht die Welt verändern. Das können wir nur gemeinsam.“ Und darauf ist sie stolz, denn auch wenn in Azadiyas Geschichte die schrecklichen Seiten von Stolz überwiegen, hat der Begriff eine Bedeutung für sie. „Ich bin stolz darauf, dass ich so leben kann, wie ich lebe. Und dass es mir egal ist, was andere von mir denken. Und ja, dass ich auch dazu stehen kann. Darauf bin ich sehr stolz, dass ich den Weg gegangen bin.“

Leni & Anna

Was uns an dem Thema besonders begeistert hat, ist die Kraft von Azadiya, die sich trotz großer Gefahr für ihre Freiheit und die Freiheit anderer Frauen einsetzt. Azadiyas Flucht und ihr Einsatz für andere Frauen sind ein starkes Zeichen dafür, dass Veränderung möglich ist, wenn man Mut zeigt.